Herbst und Hoffnung

Wenn ich heute so rausgucke, denke ich, es war doch eine gute Idee, schon gestern wandern zu gehen. Auch ich besitze (dazu später mehr) das Büchlein „Wandern mit dem MVV“ vom Bruckmann Verlag, in einer Ausgabe von 2001. In den letzten Jahren habe ich mich des Öfteren damit verlaufen und stand, wie in der Gegend von Tutzing und Aying, im Irgendwo im Wald und fragte mich, wie ich dorthin geraten war. Gestern beschloss ich, mich zwischen Icking und Wolfratshausen zu verlaufen.
Nachdem die S-Bahn in Icking eingetroffen war, fand ich fast sofort den beschriebenen Einstieg in den Wanderweg. Der erste Abschnitt ging durch ein Waldgebiet, in dem der Wanderweg aussah, als hätten Baumfäller dort gewütet und seien gleichzeitig von einer Horde Wildschweine gejagt worden. Mir fiel erst während des Gehens ein, dass es sich um die Spätfolgen des ersten Schneefalls handeln musste: Unter der Last der Flocken knickte so manche Baumkrone ein. Während ich in meinen Wanderhalbschuhen so durch den Matsch stapfte, kam mir irgendwie der Gedanke, einen Weg zu gehen, habe auch immer etwas mit dem Leben zu tun. Die Strecke, die ich im Moment und wieder alleine gehe, fühlt sich tatsächlich sturmdurchzaust, fast verwüstet an. Zwar nehme ich wahr, wie gerne ich mich vorwärts bewege und dass ich mir selbst eine gute Gesellschafterin bin, immer aber fürchte ich jedoch auch, mich zu verlaufen. Werden die Zweifel in mir stärker, tauchen am Wegesrand Zeichen auf, darauf vertraue ich – gewissermaßen aus Erfahrung. Hier bei Icking sind es grüne Punkte bzw. Quadrate. Und ich denke so für mich: „Grün ist die Hoffnung.“ Mit der Zeit habe ich Freude daran, die Hinweise an den unmöglichsten Orten zu entdecken, genauso wie an der Gleichzeitigkeit von Auf-Details-Achten und das Große-und-Ganze-nicht-aus-den-Augen-Verlieren, den Schlamm unter den Füßen zu spüren und die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Jenseits der S-Bahn-Gleise, die mich seit Icking begleiten, komme ich nach Schlederloh, wo mehrere Häuser am Isarhochufer stehen. Manche Bewohner haben in ihren Gärten Liegestühle auf das Bergpanorama ausgerichtet, die wahrscheinlich schönste Art des Fernsehens. Leider versperren Bäume mir die Aussicht entlang der Hangkante, dafür fährt der Herbst in der Landschaft hinter mir alle seine Farben auf und stoppelt die Felder. Auf einer Bank mache ich Rast, sehe zu, wie der Wind die Blätter so herumwirbelt, dass sie wie miteinander spielende Vögel aussehen, die landen und wieder hochsteigen. In Dorfen führt der Weg an einem Lama vorbei, scheinbar über Privatbesitz. Ein netter Mann nickt mir freundlich zu und signalisiert mit den Armen, ja, ja, da geht’s lang. Ich merke wieder, wie zögerlich ich manchmal bin, wenn ich glaube, fremde Grenzen zu überschreiten, diese verdammte Höflichkeit. Erst als der Mann sagt, „Des is scho’ recht“, gehe ich weiter und komme dann tatsächlich wieder auf den Wanderweg.

 

An Kirche und Maibaum vorbei über den Schlossbergweg soll’s erst an einem Findling nach links runter gen Wolfratshausen gehen. Blöd nur, wenn am gesamten Wegesrand Findlinge liegen, aber, so denke ich, die sind wahrscheinlich alle viel zu klein. In der Ferne taucht dann ein größerer Fels auf, neben dem ein toter Baum steht. Der gegenüber abzweigende Wanderweg ist jedoch gesperrt, wegen Baumbruch besteht Lebensgefahr. Ich frage ein mir entgegenkommendes Ehepaar nach einer anderen Möglichkeit und sie weisen mich auf die nächste Quere hin. Tja, die führt mich dann über eine Weide zu dem Weg zurück, der wegen Lebensgefahr gesperrt ist. Diesmal beschließe ich, mein Leben zu riskieren. Ein wenig unheimlich ist es auf dem steil nach unten führenden, laubbedeckten Pfad schon. Jedes Knarren im Geäst lässt mich den Kopf einziehen. Und gerade als ich denke, ha, manchmal muss man auch was wagen, versperrt ein umgestürzter Baum, der das Geländer erheblich eingedellt hat, den Weg. Ich überlege darunter her zu krabbeln, sehe aber dann: den zweiten Baum dahinter hat’s entwurzelt, er wurde mit Stahlseilen gesichert. Da ist kein Durchkommen. Aber wohin jetzt? Ich gehe den Weg zurück und finde einen Hinweis auf den Burgweg. Er verläuft zwischen Weidezaun und Abbruchkante, ich kann gerade mal die Füße voreinandersetzen. Hinter einer Biege liegt ein grüner Stein. Ein Hinweis, ein Hinweis, hier muss ich richtig sein. Als ich mir den Stein genauer ansehe, steht „Hoffnung“ auf ihm geschrieben. Gibt’s das?
Nach einem Beweisfoto gehe ich um die nächste Ecke und sehe, der Weg hört auf. Oder doch nicht? Wenn ich mich um den dicken Baum herumhangle, der sich über eine Art Schlucht beugt, könnte ich auf der anderen Seite weitergehen. Ich sichere meine Kamera, stecke das MVV-Wanderbuch in die um die Hüfte gebundene Jacke und klammere mich an alles, was sich zum Anklammern anbietet. Beim Rüberschwingen macht sich das Buch selbstständig: Mit mehreren Überschlägen rast es den Abgrund hinunter. Kurz bin ich versucht hinterher zu hechten, aber ich würde es nie einholen und schon gar nicht die Schlucht wiederhochklettern können. Was gehen will, gehen zu lassen, gehört auch zur Übung, nicht die leichteste für mich („Let-it-be“-Singen hilft!). Es muss auch nicht direkt ersetzt werden, jenseits des Wissens liegt das Abenteuer. Irgendwann stehe ich auf dem völlig verwahrlosten Burgberg. Es gibt weder Burg noch Ruine, sondern nur einen Gedenkstein und eine schöne Aussicht auf die Loisach und Floßstämme, von dort oben klein wie Zahnstocher.
Irgendwann finde ich den Weg den Hang hinunter, eigentlich ist es nicht viel mehr als eine Treckerspur, aber sie führt zurück in bewohntes Gebiet. Von Wolfratshausen aus wollte ich eigentlich wieder zurück nach Icking laufen. Aber: Seine Pläne zu ändern, kann auch ein Teil des Weges sein. In der S-Bahn dachte ich: Alles auf dieser Wanderung war so, wie es war. Ich hatte andere Erwartungen, die lösten sich aber in dem, was ich jeweils vorfand und wie ich damit umging, immer auf. Mir gefiel die Mischung aus informiert sein, mich überraschen und auf gewisse Weise führen zu lassen, einzugreifen, wenn nötig und immer wieder neu zu entscheiden, was ich als nächstes tun will und im Austausch mit der Umgebung abzuklären, ob ich das auch tun kann. Die Frage, ob sich das alles gelohnt hat, wird dann irgendwie überflüssig. Und doch gab’s da diesen einen bezaubernden Moment, der das Gefühl vermittelte, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort zu sein.