Nach einer Idee von Maximilian Buddenbohm, für München aufgegriffen von Helga Birnstiel (Neuhausen) und weitergeführt von der Kaltmamsell (Ludwigsvorstadt) sowie Frau Klugscheißer (Schwabing), stelle ich euch heute „meinen“ Kiez vor.
Obersendling ist ein Münchner Stadtteil. Mehr würde ein Reiseführer wohl nicht über dieses Viertel sagen, wobei ich schon zögere, „Viertel“ zu schreiben. Es gibt hier keine Sehenswürdigkeiten, die Touristen interessieren könnten, und Flair schon gar nicht. Und doch zog und zieht es viele Münchner, in- und ausländische Besucher der Stadt in diese Gegend oberhalb des westlichen Isar-Ufers. Als ich vor etwa 14 Jahren dort heimisch wurde, arbeiteten die meisten meiner Nachbarn bei Siemens. Das Unternehmen war seit 1927 der Herzschlag von Obersendling, das weitgehend industriell geprägt ist. Ging ich morgens zur U-Bahn, um zur Arbeit zu fahren, kamen mir Hunderte Menschen entgegen, die dort arbeiteten, wo ich wohnte. Als Siemens den Standort Obersendling aufgab, entlud sich der Zorn ehemaliger Mitarbeiter in wütenden Graffitis an den Häuserwänden. Für das Siemensgelände mit dem Siemens-Hochhaus, das unter Denkmalschutz steht (hurra, doch eine Sehenswürdigkeit!), gab es große Pläne. Es sollte ein neuer Stadtteil mit dem Namen „Isar-Süd“ entstehen. Angeblich scheiterte die Realisierung an der Bürgerinitiative, die 2004 dafür sorgte, dass in München neu errichtete Hochhäuser die Frauenkirche nicht überragen, also nicht höher als 99 Meter sein dürfen. Nachdem Obersendling von Siemens verlassen wurde, musste es sich neu definieren, Strukturwandel live. Das Viertel blieb seinem unternehmerischen Profil treu, andere Gewerbe siedelten sich in mehreren neu hochgezogenen Bürogebäuden an, alte Häuser und Fabrikgelände wurden saniert und zur Mittagspause ist seit ein, zwei Jahren wieder Leben auf den Straßen. Entlang der Boschetsrieder-, Hofmann- und Aidenbachstraße ist so etwas wie eine kleine Einkaufsmeile entstanden. Zum alt eingesessenen Zeitungsladen, den die nette Enkelin der Gründerin zu meinem Bedauern an die heutigen Besitzer verkaufte, gesellten sich ein Ärztehaus, mehrere Naturkostläden und Discounter, ein Drogeriemarkt und mehr als drei Friseure. Bäcker gibt es ebenfalls im Überfluss, aber nur einen Metzger, der zu einer großen hiesigen Kette gehört, deren Hauptsitz ebenfalls hier ansässig ist. Früher gehörte noch ein Zigarettenproduzent zu den Arbeitgebern in Obersendling: An manch einem Morgen atmete man ein wildes Zwiebel-Mett- und Tabakluftgemisch. Ein kleiner Asienladen bietet mittags thailändisches Essen an, das ich durchaus empfehlen kann. Tex-Mex-Fans oder jeder, der kurz nach Feierabend ein Bierchen trinken möchte, gehen ins Dillinger oder Bürgers. Neben zwei griechischen Restaurants gab es früher noch ein kroatisches Lokal (mit Kegelbahn!), in dem später zwei Inder ihr Glück versuchten – es steht seit mehreren Jahren leer. In der Zielstattstraße haben wir mit der Münchner Haupt’ sogar ein ansehnliches Wirtshaus mit nettem Biergarten.
Umgestaltet wurde auch das ehemalig EMTEC-Gelände (ja, hier kamen eure Musik- und Videokassetten her) an der Kistlerhofstraße und bietet heute als Kistlerhof Künstlern, Fisch- und Lederhandschuhhändlern sowie Filmleuten und Fotografen Unterkunft. Die bunten Hausfassaden gestaltete der Aktionskünstler Wolfgang Flatz (Sehenswürdigkeit zwei? Die Fassaden, nicht der Künstler, obwohl …). In einem der Gebäude war das Bel Etage Theater untergebracht. Dort habe ich viele Sonntagabende/-nächte beim Singen mit netten Leuten im Chor verbracht, wir sind auf der Bühne dort auch aufgetreten und haben uns bei Weihnachtsfeiern in Karaoke versucht. In einer Wohnung auf dem Dach der Halle nahm ich Gesangsunterricht. Der Theaterleiter und Gesangslehrer hatte die riesige Treppe aus Holz, die nach oben führte, selbst zusammengezimmert. War der waghalsige Aufstieg gemeistert, konnte ich von dort fast bis nach Hause schauen. Das Theater trug sich finanziell leider nicht; was heute in den schön renovierten Sälen stattfindet, keine Ahnung.
Ich lebe also in einem wilden Mischgebiet und genieße dort, ihr werdet es nicht glauben, die Ruhe! Zuvor habe ich in Schwabing, am Westpark und in Harlaching gewohnt. Der erste Anblick von Obersendling war ein kleiner Schock. Bis ich dann die grüne Oase im Hinterhof fand und mieten konnte. Mitten im Industriegebiet bin ich dort im Grünen, kann Vögel beobachten, Eichhörnchen huschen vorbei, aber auch ein Falke ist schon im Garten gelandet und letzten Winter schaute sogar ein ziemlich abgerissener Fuchs vorbei, war das eine Aufregung! Mit einem Nachbarn teile ich mir eine Katze, was für uns alle ziemlich nett und praktisch ist. Zum Spazierengehen taugt der nah gelegene, kleine Südpark, wo übrigens die Siemens-Siedlung – als Sehenswürdigkeit Nr. 3 – mit ihren prominenten Wohnhochhäusern auf sich aufmerksam macht. Obersendling ist, ich muss es so sagen, zum Teil echt häßlich. Dorthin verirrt sich niemand freiwillig. Am längsten, so scheint’s wohnt der “Grantler” hier, ein waschechter Bayer mit Gamsbart am Hut und Zamperl an der Leine. Er ist der einzige in dieser Gegend, der den Bürgersteig fegt und niemals grüßt. Und obwohl Obersendling komplett zersiedelt und zerrissen wirkt, ich lebe recht gern in meiner Enklave dort, mache es mir schön und hoffe, das Drumherum zieht nach: Es ist ja eh seit Jahren im ständigen Umbruch.