Wundernisse

Sie sieht fern. Am frühen Nachmittag, Sport, genauer gesagt Reitsport. Das ist neu, ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich jemals für Pferde interessiert hätte. Und dann erzählt sie mir, sie wäre als junges Mädchen geritten und hätte sich um die Tiere gekümmert, die geliehen vor die Kutsche gespannt wurden. Zu gerne hätte sie eines dieser Pferde in ihren Stall geholt, in dem aber nur Ziegen und Hühner Platz hatten. Das erste Mal auf einen Pferderücken wurde sie von einem Russen gesetzt, der eigentlich Mongole war, sich seltsam verloren in der Roten Armee fühlte und von ihrer Familie in gewisser Weise adoptiert wurde. Und während sie den Ausritt in ihrem kleinen Dorf bei Leipzig noch einmal durchlebt, nimmt sie Haltung an. Und ich denke, ja, tatsächlich, wäre ihr Leben nur ein klein bisschen anders verlaufen, sie hätte eine prima Reiterin abgegeben, zumindest hätten ihr die Reiterklamotten unglaublich gut gestanden. Und ich freunde mich mit diesem kleinen, eigensinnigen, neugierigen, ungemein tier- und pflanzenliebenden Mädchen an, das auch ansonsten nahezu körperlich mehr und mehr durchscheint, füge diese unbekannte Seite der mir so vertrauten Frau hinzu. Damit entlasse ich sie auch aus einer Funktion, die sie lange Zeit für mich hätte haben sollen und nicht erfüllen konnte. Ich werde noch einmal auf einer tieferen Ebene erwachsen und sehe sie als Menschen mit eigenem Leben, ihren Träumen, Bedürfnissen, erfüllten und unerfüllten Wünschen, kleinen und großen Dramen, Schrecklichkeiten, die sie in einem Maße geprägt haben, die mir früher nicht bewusst waren, nicht sein konnten.
So sehr sie das Weltfest des Pferdsports genießt, hasst sie die Werbung, die später den Vorabendkrimi umspült: Hunde, die seltsamerweise sprechen können und Tuben voller Schmerzgel im Garten verbuddeln. Den Markennamen versteht sie nie und so wiederhole ich ihn für sie, immer und immer wieder, mantraartig. Aber noch größer ist ihre Abneigung gegen die Frau, die einer anderen Schmerzfreipaste voller Dankbarkeit eine Art Liebeserklärung entgegenhaucht und dabei fröhlich-frei am windumtosten Strand herumtänzelt, wenn ich es richtig erinnere. Diese Szene lässt sie geradezu wütend werden. Und dann sitzen wir anderntags am Frühstückstisch und freuen uns über den ersten Kaffee am Morgen. Und was höre ich sie entzückt und in genau dem Ton der Frau aus dem Werbespot sagen:
„Kaffee, ich liebe dich!“
Also wenn Werbung, dann doch für diesen Muntermacher und genauso und genau da und dort. Besser kann ein Tag nicht beginnen.